Tauchen an der Thistlegorm

Mai 2001

Eigentlich bedarf sie ja überhaupt keiner Vorstellung mehr, die Thistlegorm gehört sicherlich zu den Wracks, über die in europäischen Taucherkreisen am meisten geschrieben und gesprochen wird. Vollbeladen mit militärischem Gerät für die britischen Nordafrika-Truppen wurde sie in den frühen Morgenstunden des 6. Oktober 1941 Opfer eines deutschen Langstreckenbombers vom Typ Heinkel He 111 und sank am Sha'ab Ali in 30 m Wassertiefe. Neun Besatzungsmitglieder starben bei dem Angriff. In den 50 Jahren wurde das Wrack von Jacques Cousteau und seinem Calypso-Team durch Zufall entdeckt. Mit dem Einsetzen des Tauchsport-Booms Anfang der 90er Jahre erwachte das Schiff zu neuer Blüte. Im Rahmen von Liveaboards und seit neuestem auch von Tagestouren von Sharm El Sheik aus wird das Wrack betaucht.

Unser Liveaboard erreicht die Thistlegorm am frühen Morgen gegen 6.30 Uhr. Eine frühe Ankunft ist wichtig, um den ersten von zwei geplanten Tauchgängen noch relativ ungestört ohne die Anwesenheit der Tagesboote durchführen zu können. Nur zwei weitere Boote haben bereits an dem Wrack festgemacht, sodass wir es ziemlich für uns haben, als wir um 7 Uhr zum ersten Mal ins Wasser springen. Die nächste positive Überraschung folgt auf dem Fuße, es hat keine Strömung, die hier meistens kräftig von Nord nach Süd fließt, wie überhaupt im gesamten Roten Meer. Das Wrack ist schon von der Wasseroberfläche aus zu sehen und an der Abstiegsleine geht es direkt aufs vordere Deck in 20 m Tiefe. Wir wollen uns im ersten Tauchgang zunächst auf den vorderen, relativ unzerstörten Teil des Schiffs konzentrieren, der auch die interessantesten Objekte enthält. Im zweiten Tauchgang soll dann der hintere Teil des 126 m langen und 18 m breiten Schiffs folgen.

Unser Tauchgang beginnt mit einer Umrundung des Bugs, der einen eindrucksvollen Blick auf das Schiff vermittelt. Der Steuerbordanker ist hinuntergelassen und liegt weit vor dem Bug im Sand, Indiz dafür, dass das Schiff ankerte, als es von dem deutschen Flieger überrascht wurde. Wir dringen zunächst in die engen Kabinen in der Bugsektion ein, die einen Haufen gähnende Leere enthalten und die man sich getrost sparen kann. Früher lagen hier wohl noch jede Menge Gummistiefel herum, die aber allesamt das Opfer von Souvenirjägern geworden sind. Auf dem vorderen Deck stehen zwei Tender, von denen der backbordseitige ziemlich bedrohlich in Laderaum 1 hineinragt. Da er die letzten 60 Jahre in dieser Position verbracht hat, darf man aber hoffen, dass er einem nicht ausgerechnet während des eigenen Tauchgangs auf den Kopf fällt. Um den 10 Tauchern auszuweichen, die sich gerade im Laderaum 1 zu schaffen machen, dringen wir zunächst in Laderaum 2 vor, in dem es Motorräder, Jeeps und kleine Trucks zu bestaunen gibt. Leider sind auch diese mittlerweile das Opfer von Souvenirjägern geworden. Nicht, dass selbige die Trucks haben mitgehen lassen, aber an fast allen Motorrädern fehlen Sitz und Lenker und kaum ein Jeep oder Truck besitzt noch Scheinwerfer, Lenkrad oder Tacho. Trotzdem macht es Spaß, die alten Gerätschaften zu begutachten, wann sieht man schon mal einen LkW oder aufgestapelte Motorräder aus den 30er Jahren unter Wasser? Durch eine schmale Öffnung geht es zurück in Laderaum 1, der aber nicht viel zu bieten hat. Es liegen tatsächlich noch ein paar Gummistiefel herum (genau zwei hab ich gezählt), die aber ziemlich zerfetzt und als solche kaum noch zu erkennen sind. Also verlassen wir die Laderäume und tauchen vorbei an der Brücke zur zerstörten Mittelsektion, die kaum noch schiffsähnliche Züge aufweist, was kein Wunder ist, da ausgerechnet hier, wo der komplette Sprengstoff gelagert war, die Fliegerbomben eingeschlagen sind. Überraschenderweise ist trotzdem nicht der ganze Sprengstoff explodiert, man kann offene Kästen erkennen, in denen noch je vier Granaten säuberlich verpackt sind. Eigentlich sollte es ja überflüssig sein zu sagen, dass man in diesem Teil des Schiffes absolut nichts anfassen darf und tunlichst auf seine Tarierung achten sollte. Vor ein paar Jahren soll es aber tatsächlich ein paar hochintelligente Scherzkekse gegeben haben, die eine Granate nicht unbeträchtlichen Ausmaßes von der Thistlegorm haben mitgehen lassen und sich dann gewundert haben, dass sie am Flughafen in Hurghada verhaftet worden sind. Ein Monat in einem ägyptischen Gefängnis bei Wasser und Brot wird ihnen sicher gutgetan haben. Wir jedenfalls lassen alles schön brav an seinem Platz und schauen uns den Kleinpanzer an, der zwischen all den Trümmern hervorragt und auf der Seite liegt, sodass deutlich die Laufräder mit der Kette zu erkennen sind. Unsere Nullzeit neigt sich bedrohlich dem Ende entgegen, sodass wir es damit gut sein lassen und zum Abschluss in 5 m an der Leine hängend unseren Sicherheitsstop absolvieren. Und wie wir da so über Laderaum 2 hängen, fällt uns auf, dass es in der Zwischenzeit an der Oberfläche wohl einigen Verkehr gehabt haben muss, denn als ob irgendwo ein Startschuss gefallen sei, fallen plötzlich von allen Seiten 30 bis 40 Taucher wie ein Bienenschwarm über die beiden Laderäume her, sodass wir vor lauter aufsteigenden Luftblasen kaum noch das Wrack erkennen können. Mit dem mulmigen Gefühl, dass der zweite Tauchgang wohl etwas Ellenbogeneinsatz erfordern könnte, tauchen wir nach einer knappen Stunde auf. An der Oberfläche sehen wir dann die Ursache der Hektik, die Zahl der Boote hat sich inzwischen verdreifacht. Aber damit nicht genug, während der folgenden dreistündigen Oberflächenpause erreicht ein Boot nach dem anderen die Thistlegorm. Es geht zu, wie donnerstags beim ALDI, wenn Computer verkloppt werden. Bei der Anzahl von 24 (in Worten: vierundzwanzig!) Tauchbooten hab ich dann aufgehört zu zählen und mich resigniert der ägyptischen Sonne überlassen.

Um 11 Uhr stürzen wir uns zum zweiten Tauchgang ins Gewühl. Als Erstes bringen wir an unserem Referenzseil mal ein Stück blaues Seil an, um am Ende in dem spinnennetzähnlichen Gewirr von Seilen, die inzwischen an der Thistlegorm festgemacht sind, das unsrige noch wiederfinden zu können. Wär schon etwas peinlich, wenn man am Ende auf dem falschen Boot landet und ein freier Sicherheitsstop ist bei der nun starken Strömung auch kein großer Spaß. Es erfordert jetzt doch schon energische Flossenschläge, um auf der Stelle zu bleiben. Ich bin froh, dass wir die beiden Laderäume schon am frühen Morgen besichtigt haben, denn Schulter an Schulter drängen sich jetzt dort die Taucher, sodass ich mich frage, ob die überhaupt was von der Ladung oder doch nur schicke Taucherkleidung sehen. Wir schwimmen geradewegs zur zerstörten Mittelsektion und biegen dann an der Backbordseite im 90 Grad Winkel ab. Ich will mir unbedingt die Lokomotive anschauen, die da irgendwo neben dem Schiff aufrecht im Sand steht. Guide Carlo hat uns im Briefing zwar abgeraten, bei der starken Strömung und der doch ziemlich bescheidenen Sicht dorthin zu gehen, da die Lok etwa 50 m vom Schiff entfernt liege, wir sie sowieso nicht fänden, nur sinnlos unsere Zeit und Luft verbraten und letztenendlich von der Strömung auch noch weggetragen werden würden. Aber auf meine Mami hab ich schließlich auch nie gehört und ich glaube, Carlos Ausführungen sollten lediglich die wenig erfahrenen Taucher motivieren, auf Nummer sicher zu gehen und am Wrack zu bleiben. Ich zähle mich mit meinen 160 Tauchgängen einfach mal nicht dazu. Wir schwimmen jedenfalls vom Wrack weg und sichten auf Anhieb bereits nach 8-10 m die Lok im Sand. Sie steht natürlich keine 50 m, sondern vielleicht 20, maximal 30 m von der Thistlegorm entfernt auf dem Grund. Der vordere Teil mit dem Dampfkessel ist intakt, während sich der hintere Teil der Lok mit dem Führerstand komplett verabschiedet hat. Eine 2-minütige Umrundung muss reichen, denn immerhin befinden wir uns in 31 m Tiefe und mit dem Tauchgang von heut Morgen ist unsere Nullzeit schon deutlich verkürzt. Wir lassen uns über die Mittelsektion hinweg zum Heck treiben, welches wieder schiffsähnliche Züge aufweist, jedoch gegenüber der Bugsektion um 50 Grad zur Backbordseite hin verdreht ist. Als Erstes bestaunen wir die mächtige Schraube, die fast vollständig erhalten ist. Unter dem Heck hindurch geht es zu den Klos auf der Backbordseite, die zwar noch gut erhalten sind, aber aussehen, als seien sie 60 Jahre lang nicht geputzt worden. Das liegt daran, weil sie 60 Jahre lang nicht geputzt wurden. Fast senkrecht tauchen wir durch den engen, die Waschräume verbindenden Gang, leuchten mit den Lampen in die angrenzenden Räume, die aber allesamt leer sind. Am Ausstieg begutachten wir die mächtige, auf dem Heck montierte Flak, die nun wegen der Neigung des Schiffes traurig nach unten zeigt und einen faszinierenden Anblick bietet. Zurück geht's - nun gegen die Strömung - zur Brücke, wo wir uns zum Abschluss die leeren Mannschaftsquartiere und die Käpitänskabine anschauen. Dort steht noch eine Badewanne herum, in der man ein wenig planschen kann, Wasser ist ja genug da. Unter der Decke hat sich eine Luftblase gesammelt, die den interessanten Anblick einer Wasseroberfläche in 17 m Tiefe zur Folge hat. Die Luftblase ist aber gerade mal eine Stirnhöhe dick, sodass es ratsam ist, den Atemregler dort zu belassen, wo er hingehört, nämlich im Mund. Nachdem wir unsere Nullzeit wegen des unbremsbaren Erkundungsdrangs (manche nennen es auch Spieltrieb) um fast fünf Minuten überschritten haben, denken wir dann mal so langsam ans Auftauchen und sitzen noch einen 9 Minuten Dekostopp an der Leine ab, bevor wir die Thistlegorm endgültig verlassen. Die tollkühne Aktion unseres Käptn's aus einem von 10 anderen Booten umzingelten Liegeplatz, ohne Kollision rückwärts auszuparken, kriege ich schon gar nicht mehr mit.

Fazit: Trotz der Bahnhofsatmosphäre (15 x 24 = 360 Taucher) an der Thistlegorm gehörte sie für mich zu den absoluten Highlights des Liveaboards im nördlichen Roten Meer. Zwar ist an dem Wrack kaum Korallenbewuchs zu sehen, aber es ist einfach ein großer Spielplatz, auf dem es viele Dinge zu sehen gibt, die man sonst praktisch nirgendwo bei einem Wrack zu sehen bekommt; zumindest in keinem, welches im Umkreis von fünf Flugstunden von Deutschland und sporttauchfreundlichen Tiefen liegt. Es ist wichtig, ganz früh da zu sein und zunächst den interessanteren vorderen Teil des Schiffes zu begutachten, was morgens um 7 Uhr noch ziemlich ungestört möglich ist. Kommen dann die Tagesboote und schauen sich ihrerseits den vorderen Teil an, geht man einfach nach hinten, wo man dann immer noch ziemlich stressfrei tauchen uns sein Ding drehen kann. Zu beachten ist, dass die Bedingungen wegen der meist starken Strömung und manchmal auch schlechten Sicht schwierig sein können. Die Tiefe von 18 bis 24 m, in denen sich der größte Teil eines Tauchgangs abspielt, mit einigen interessanten Objekten jenseits der 30-m-Marke, schreit geradezu nach dem Einsatz von Nitrox, um die Nullzeit zu maximieren.

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